Wenn das Private politisch wird – Sehnsucht nach Gemeinschaft in unruhigen Zeiten

Wenn das Private politisch wird – Sehnsucht nach Gemeinschaft in unruhigen Zeiten

Wenn das Private politisch wird – Sehnsucht nach Gemeinschaft in unruhigen Zeiten

# Glaubensimpuls

Wenn das Private politisch wird – Sehnsucht nach Gemeinschaft in unruhigen Zeiten

Monatsspruch Juni: Mir aber hat Gott gezeigt, dass man keine Menschen unheilig oder unrein nennen darf.
Apostelgeschichte 10, 28

Lange schien es so, als würde sich zwar die äußere, materielle Welt modernisieren und rasant verändern, aber das Private blieb seltsam unberührt. Die Autos wurden immer schneller und technisch immer ausgefeilter, das Internet ermöglichte schnelleres und bequemeres Einkaufen, die Warenwelt wurde immer vielfältiger. Die Beziehungen aber und die Familienverhältnisse – so schien es – blieben davon ausgenommen. Hinter den Hecken des eigenen Grundstückes war es möglich, die Dinge in der Welt laufen zu lassen. Ich fürchte, dass diese Zeit vorbei geht. Ein bisher privat gehaltener Lebensbereich nach dem anderen ist in den vergangenen Jahren Gegenstand von Debatten geworden, muss auf einmal verhandelt werden, wird auf einmal diskutiert. Nicht nur die Art, wie wir unsere Wohnzimmer heizen, sondern auch, wie wir lieben und wie wir uns ernähren. Ich soll zu Hause plötzlich alle tierischen Produkte aus dem Kühlschrank und dem Haushalt verbannen – das geht nicht ohne Auseinandersetzung. Kinder, die als Jungen oder Mädchen erzogen wurden, entscheiden sich plötzlich, ihr Aussehen und ihr Pronomen zu ändern. Familienangehörige, die das Thema Israel oder Migration am Abendbrottisch anschneiden, erleben, wie Partner oder Geschwister plötzlich laut werden. Tiefe Gräben tun sich auf bei Impffragen – hat man früher darüber je gesprochen? Ständig erreichen mich Videos von Eltern, Kindern oder Verwandten, in denen meinungsstark all diese Dinge verhandelt werden. Die Art, wie ich mich schriftlich äußere, selbst das Lebensende, das früher einfach kam, wann es kam, muss nun sorgfältig geplant und zwischen den verschiedenen Hilfesystemen abgestimmt werden. Es gibt praktisch keine unpolitischen und privaten Ecken mehr, unser Haus und unser Garten, unser Körper, unsere Sprache und unser Denken – sie sind, wenn es gut läuft, zum Parlament oder, wenn wir Pech haben, zum Schlachtfeld geworden.

In der Zeitung stand neulich ein Interview mit einer Filmregisseurin, in dem sie sagte: „Für mich ist echte Rassismusbekämpfung, wenn man akzeptiert, dass alle Menschen gleich beschissen sind.“ Das klingt wie eine rotzige Wiederholung der Theologie des Paulus. Sie erinnern sich? Das war der, der geschrieben hatte: „Aber sie sind alle allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie bei Gott haben sollten.“ Dabei dachten wir doch, dass das wenigstens im Kleinen und im Privaten geht: rein, gerecht und unantastbar sein. Alle Zwietracht sollte am Gartentor oder doch am Esstisch enden. Wenigstens mein Körper sollte nur mir gehören, ohne dass jemand mir sagt, wie ich aussehen oder welche Medizin ich nehmen muss. Politik – das war doch was für „die da oben“, oder „die anderen“, etwas Schmutziges, wo man nichts richtig und gut machen kann. Mit sich selbst übereinstimmen – das ging doch eigentlich im Privaten bisher ganz gut – oder? Doch nun, wohin ich schaue – überall nur Zweideutigkeit, Unreinheit, Kompromiss. Wo soll das enden? Wo finden wir eigentlich noch Zuflucht vor den Meinungen, die wie Pfeile durch die Luft fliegen? Wo gibt es noch Unumstrittenes, auf das wir uns einigen können? Mit wem kann ich noch vollkommen übereinstimmen?

Genau deswegen ist sie ja so groß: diese Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Zusammenhalt, nach Übereinstimmung. Genau deswegen sind ja alle Instanzen, die das anbieten oder wenigstens vorspiegeln können, in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Genau deshalb suchen wir doch händeringend solche Orte, an denen echte Gemeinsamkeit erlebt werden kann. All das merke ich auch in unserem Ort und unserer Gemeinde. Und natürlich treten unterschiedliche Sichtweisen heute stärker zutage, beispielsweise bei der Diskussion um die Gestaltung des Foyers unseres Gemeindehauses, wo es darum geht, verschiedene Nutzungserfordernisse und ästhetische Vorlieben miteinander in Einklang zu bringen oder bei der Frage, welchen Raum unsere Verschiedenheit bei politischen Einschätzungen in unserer Gemeindeöffentlichkeit einnehmen soll. Andererseits erlebe ich, wie wichtig es allen ist, dass wir unsere Feste und Gottesdienste gemeinsam feiern, dass wir Orte weiterentwickeln oder entdecken, in denen trotz Verschiedenheit mit allen gefeiert und gebetet und gesungen werden kann. Wir wissen nämlich: Das tut auf geheimnisvolle Weise gut! Gott segnet nicht unsere unterschiedlichen Meinungen ab, und ich versuche auch sehr vorsichtig zu sein, ihn dafür in Anspruch zu nehmen. Aber ich bin gewiss, er segnet und stärkt uns als Person: „Gott ist mit dir auf dem Weg und durchschreitet in Liebe den Lärm der Starken. Heilendes Wort geschieht im Vorbeigehn. Zerbrochenes rührt er leise an und rückt es zurecht. Fürchte dich nicht!“

Heilung geschieht dort, wo wir akzeptieren, dass wir alle gleich Bedürftige sind, weil wir Vergebung, Gnade und Nachsicht brauchen. Nehmen Sie sich Zeit dafür, es wird Ihnen guttun! Vielleicht ist die Kirchengemeinde der letzte verbliebene Ort, an dem Verschiedenheit in diesem Sinne sozialverträglich gemeinsam gelebt und sogar gefeiert werden kann. Von hier aus gehen heilende Kräfte auch in unser Umfeld aus! Hier in unserem neuen Gemeindebrief finden Sie viele Gelegenheiten, das zu erleben. Ich hoffe sehr, dass wir uns sehen und uns darüber austauschen können.

Bleiben Sie behütet,

Pfarrer Hagen Kühne


Aus dem Gemeindebrief Mai-Juli der Evangelischen Kirchengemeinde Berlin-Blankenburg https://kirche-blankenburg.de/...

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