02/07/2024 0 Kommentare
Der Mann, der zu spät kam
Der Mann, der zu spät kam
# Worte zum Mitnehmen
Der Mann, der zu spät kam
»Jetzt? Jetzt kommen Sie hier in Frankfurt an mit Ihren Ostereiern? Sagen Sie mal ... « »Ich bitte um Verzeihung, Sie meinen, es sei zu spät ... ?«
»Lieber Herr ... wie war der werte Name? Lieber Herr, was denken Sie sich eigentlich? Sollen wir vielleicht unseren Lesern kurz vor Pfingsten etwas von Ostern erzählen? Was für eine Vorstellung haben Sie vom Betriebe einer großen Zeitung? Nehmen Sie Ihre Eier wieder mit. Für uns sind Sie erledigt. Aus und vorbei, Ostereier vierzehn Tage nach Ostern! Machen Sie das immer so?«
»Ja.« Der geflügelte Bote legte die bunten Eier sorgfältig auf die Schreibtischplatte des Redakteurs, schüttelte die bestaubten Flügel und schwieg. Dann sagte er:
»Ich bin der Mann, der zu spät kommt. Ich komme immer zu spät.«
Der Redakteur streifte die Asche seiner Zigarette in den Aschenbecher, denn es war kurz nach den Feiertagen, und die Zimmer waren schön sauber, daher tat er es. »Sie kommen – Sie kommen immer zu spät?« sagte er.
»Ich komme immer zu spät«, sagte der Mann schlicht.
»Und wie wirkt sich das in Ihrem Leben aus?« fragte der Redakteur mit mitleidigem Blick.
»Das sieht so aus«, sagte der Mann. »Ich bin das Ding, das immer zu spät kommt. Ich komme als Kind ziemlich abgehetzt, atemlos zur Schule, wenn sich die letzte Klassentür unerbittlich geschlossen hat – ich komme ängstlich trippelnd an, klopfe schüchtern und werde mit einem Donnerwetter begrüßt; ich komme ins medizinische Staatsexamen manchmal ein ganzes Jahr zu spät und ich habe meine Zeit verloren: ich bringe dem Polizeibeamten die Erleuchtung wegen des letzten großen Verbrechens, aber erst dann, wenn der Täter längst über den großen Teich gefahren ist und in Kanada Birnen pflanzt; ich weiß die allerbeste, die allertreffendste Antwort, die man dem frechen Patron von der Konkurrenz zu geben hat – aber erst dann, wenn der schon weg ist; ich lasse den Lotteriezettel mit dem großen Los in das Haus der armen Frau flattern, aber sie ist schon tot, und ihre grinsenden Erben freuen sich ein Loch in den Kopf; ich bereue, was ich dem armen Mädchen angetan habe, die mir ihr Leben gegeben hat und ihre Liebe – aber sie ist schon fort, mit einem anderen verheiratet, nicht sehr gut übrigens, – zu spät, zu spät; ich entwerfe einen herrlichen Lebensplan, ich weiß genau, wie man es anfangen muß, um Zeit, Geld und Kräfte zu sparen; aber das weiß ich erst, wenn ich ein alter Mann bin, und dann nützt es mir nichts mehr – zu spät; – alle Eisenbahnzüge fahren mir vor der Nase weg; ich verpasse Revolutionen und Ordenausteilungen; ich hätte damals Terrains kaufen sollen, aber ich bin zu spät gekommen; ich habe den psychologischen Augenblick nicht benützt, um Lisa zu küssen, es ist zu spät; ich habe die aktuelle Zeitschrift nicht begründet, und als noch niemand nach Mexiko fuhr, bin ich nicht hingefahren, und jetzt ist es zu spät. Überall komme ich an, wenn alles vorbei ist; ich bin der Mann, der zu spät kommt – und hier, Herr Redakteur, sind meine Ostereier.«
Der Redakteur warf in jähem Entschluß seine ausgerauchte Zigarette auf den Fußboden. Er sah seinen Besucher fest an und sprach, jedes Wort betonend: »Sie – sind – ein – Schlemihl.«
Der geflügelte Bote erhob sich langsam und wollte die Ostereier ergreifen, die hier offenbar nicht benötigt wurden; er machte eine ungeschickte Bewegung, sie kollerten langsam zu Boden und zerbrachen.
»Man sagt«, sprach er leise, »dass der Schlemihl keinen Schatten habe. Ich habe viele Schatten – viele Menschen sind meine Schatten.«
»Ostereier zu Pfingsten«, grollte der Redakteur dumpf. »Wie ich Ihnen sage: Sie brauchen nicht mehr wiederzukommen – stellen Sie die Lieferung an uns ein. Ich brauche Sie nicht mehr. Guten Tag.«
Der Bote stand schon an der Tür, wandte sich noch einmal halb um und wiederholte mechanisch: »Guten Tag.«
»Wie war doch Ihr Name?« fragte der Redakteur. Der Bote hatte schon die Klinke in der Hand, er verharrte noch einen Augenblick und ließ seine Augen über die zerbrochenen Ostereier gehen.
»Ich heiße Glück ... « sagte er.
Peter Panter
Frankfurter Generalanzeiger, 19.04.1928.
Kurt Tucholsky Erzählungen und Prosastücke 1928-1929
Quelle: www.textlog.de
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