02/07/2024 0 Kommentare
Wir trauern um den Kirchenmusiker und Komponisten Manfred Schlenker
Wir trauern um den Kirchenmusiker und Komponisten Manfred Schlenker
# Nachruf
Wir trauern um den Kirchenmusiker und Komponisten Manfred Schlenker
„Kann das Wort von den letzten Tagen aus einer längst vergangnen Zeit uns durch alle Finsternis tragen in die Gottesstadt leuchtend und weit? Wenn wir heute mutig wagen, auf Jesu Weg zu gehen, werden wir in unseren Tagen den kommenden Frieden sehn. Auf, kommt herbei! Lasst uns wandeln im Lichte des Herrn!“ So steht es in einem Liedvers von dem Theologen Walter Schulz. Manfred Schlenker hat diese derzeit hoch aktuelle Friedensvision nicht nur vertont sondern auch gelebt. Ein Leben bis an den Rand angefüllt mit wunderbarer Musik. Ein langes Leben. „Lebt Manfred Schlenker noch?“ Eine typische Frage der letzten mehr als zehn Jahre. „Ja, Manfred Schlenker lebt noch und komponiert und veröffentlicht Kompositionen in Verlagen“ konnte die stolze Antwort sein. Ein Wunder an Schaffenskraft aber auch in gesundheitlicher Hinsicht. Die Musik war für Manfred Schlenker wohl ein „Lebens-mittel“.
Am Abend des 05. Juni 2023 vollendete sich das Leben von Manfred Schlenker im gesegneten Alter von 97 Jahren. Seine kompositorische Schaffenskraft schien bis zum Schluss ungebrochen. Eines von vielen Heften waren die Ende 2022 im Strube-Verlag erschienen „Zwei Dutzend Fried-liche Lieder“. Eine Antwort von Manfred Schlenker in der Zeit des Krieges in der Ukraine. Damit war er mit 96 Jahren immer noch aktuell am Zeitgeschehen. Noch kurz vor seinem Tod konnte er eine Komposition zu Lebensstationen und Bildern Caspar David Friedrichs fertig stellen. Er berichtete noch am Telefon begeistert von der besonderen Schönheit der Bilder Friedrichs. Wenige Monate früher war seine Frau Ursula verstorben. Beide waren 68 Jahre lang miteinander verheiratet und gründeten, fast, wie die biblischen Urväter und Urmütter eine riesige Familie mit fünf Kindern, 14 Enkeln und 15 Urenkeln!
Manfred Schlenker wurde 1926 in Berlin geboren. Der Vater war Stadtmissionar in Berlin, die Mutter Oratoriensängerin. Mit 18 Jahren zum Kriegsdienst eingezogen, empfand er die Entwaffnung zu Kriegsende als Befreiung. Musik wurde bald ein Überlebensmittel. Schon in der fünf Jahre langen Kriegsgefangenschaft komponierte Manfred Schlenker und führte mit einem Lagerchor sogar Operetten auf und half vielen damit, die Zeit der Gefangenschaft zu überleben.
Manfred Schlenker konnte Menschen zum Musizieren und Singen in Gemeinschaft begeistern und ihnen dabei Halt geben – auch nach dem Krieg in den politisch schwierigen Verhältnissen in der damaligen DDR. Ab 1956 als Domkantor in Stendal baute er eine begeisternde und vielfältige Kantoreiarbeit und gleichzeitig eine erfolgreiche Jugendarbeit auf. Zunächst mussten Orgeln und Einrichtung nach dem Krieg erst einmal grundsätzlich hergerichtet werden. Die Chöre entwickelten sich zu hoher Leistungsfähigkeit, dass sie auch zu Rundfunkaufnahmen herangezogen wurden. Manfred Schlenker suchte eigenständig denkend einerseits die Kooperation mit staatlichen Orchestern, um große Konzertaufführungen im Raum der Kirche zu ermöglichen. Andererseits öffnete er Kirchen zu Jazz-Konzerten, die viele Jugendliche anzogen und von den DDR-Staatsorganen argwöhnisch beobachtet wurden.
Schon in Stendal bot Schlenker Kurse für Musikinteressierte Menschen / Hilfsorganisten an. Besonders als Leiter der damaligen Kirchenmusikschule Greifswald (heute Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft der Universität Greifswald) bekam ab März 1975 die Ausbildungsarbeit noch ein größeres Gewicht.
Manfred Schlenker hat eine marode Kirchenmusikschule in Greifswald wesentlich wieder aufgebaut und eine ganze Generation von Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusikern ausgebildet. Heute arbeitet der größte Teil von ihnen als mittlerweile gestandene KirchenmusikerInnen unter anderem in Städten, wie Hannover, Braunschweig, Düsseldorf, Berlin, Nürnberg, z.T. in führenden Positionen.
Ehemalige Studierende beschreiben Manfred Schlenker als jemanden mit einem großen Gespür für musikalische Begabungen. Viele erhielten von ihm im richtigen Moment wichtige Impulse auf dem Weg ins Erwachsenenleben. Er war einerseits sachlich-kritisch und brachte den Studierenden gleichzeitig väterlich eine große Wertschätzung entgegen. In Greifswald musste sich Manfred Schlenker auch mit sehr irdischen Problemen auseinander setzen. War etwas zu reparieren, war sich der Direktor nicht zu schade, auch selbst Hand anzulegen. Auch mit dieser pragmatisch-demütigen Geisteshaltung imponierte er damals seinen Studierenden.
Manfred Schlenker führte mit den ihm zur Verfügung stehenden Chören einerseits die großen Standardwerke (Bachmotetten, die großen Messen, Oratorien, Passionen von Bach, Mendelssohn Beethoven etc.) auf andererseits viele moderne Kompositionen.
Unreflektiertes Wiedergeben der Musik überkommener Repertoire-Stücke war nie seine Sache. Es ging darum, im Bekannten Ungehörtes freizulegen. Es musste aktuell sein, was künstlerisch geschieht.
Hierbei zeigte Manfred Schlenker einen unbedingten Willen zur Arbeit, bei scheinbar unbegrenzter Belastbarkeit. Modernere Werke, wie z.B. „Ezzo-Lied“ von Johann Nepomuk David waren mitunter keineswegs eingängig und beliebt. Es war eine Leistung Manfred Schlenkers mit fast erbarmungsloser Konsequenz an diesen Stücken festzuhalten. Es wird beschrieben, dass er die Studierenden mitunter bis an die Grenzen der Belastbarkeit forderte. Später als das Werk erarbeitet war, wurde er dafür von diesen selben Studierenden geliebt, weil er kompositorische Feinheiten und Meisterschaft in diesen Werken aus dem Verborgenen gefördert hatte.
Durch das Engagement von Manfred Schlenker erlangte die Greifswalder Bachwoche – das damals einzige Norddeutsche Musikfestival in der DDR – deutschlandweite und sogar internationale Beachtung.
Ein Wendepunkt war der Herzinfarkt 1987 während der Aufführung des Paulus in Grimmen. Um die Aufführung herum hatte er mit vielfältigen Widrigkeiten zu kämpfen. In einer Rede berichtet er rückblickend: „...bei den wunderbar von Mendelssohn komponierten Jesusworten „Stehe auf und gehe in die Stadt – da will ich Dir zeigen, was Du tun sollst“ trat ich ab. Man diagnostizierte einen Herzinfarkt und ich darf Ihnen sagen: „Ich habe nicht einen Augenblick Angst gehabt, denn ich dachte, jetzt greift einer ein, der deinen Weg richtig leitet.“ Der Rückzug aus Greifswald in das beschauliche Dorf Stolpe bei Berlin 1988 wirkt auf den ersten Blick wie ein Abschied in den Ruhestand. Es begann aber eine neue, intensive, kreative Schaffensphase.
Manfred Schlenker komponierte in breiter stilistischer Vielfalt Kirchenlieder für das neue Gesangbuch, Motetten, Kantaten Oratorien, Orgelwerke, Chorsätze für renommierte Chöre, wie den Thomanerchor, sowie kleine praktikable Sätze für kleinere Kirchenchöre, Bläsermusiken, Kinderchorwerke, Singspiele, Auftragswerke und vieles mehr. Durchaus sehr hoch-anspruchsvolle, aber auch für einfachste Verhältnisse sehr gut realisierbare Musik.
Großzügig hat er seine Kompositionen an Musikensembles gegeben und diese Menschen damit beschenkt. Beispielsweise komponierte er für mehrere Posaunenchöre Werke zu deren Jubiläen. Eine umfangreiche Werkliste ist auf manfred-schlenker.de einsehbar. Auch im Ruhestand hielt er über Rundbriefe mit seinem großen Kollegen- und Freundeskreis Kontakt.
Die Hintergründe zu seinen Kompositionen sind immer sorgfältig recherchiert. Manfred Schlenker vertonte Texte im Sinne des Wortes. Durch seine Vertonung werden manche Gedanken plastisch und fangen besonders an zu klingen. Alte Volkslieder und das Schaffen von Dichtern brachte Schlenker durch seine Kompositionen ins Bewusstsein und rettete diese damit vor dem Vergessen. Immer klingt in seinen Werken etwas ihm eigenes, „schlenkertypisches“ mit. Seine Musik erfordert Wachheit. Oft gibt es in den Musikstücken überraschende harmonische Wendungen. Viele Vorzeichenwechsel bringen einen farbigen Klang und sind für die ausführenden Musiker eine Herausforderung. Die Kompositionen brauchen oft ein zweites Durchspielen, eine intensivere musikalische Beschäftigung, um gut zu klingen. Die „Liebe auf den zweiten Blick“ ist aber eine intensivere – viele Melodien prägen sich dann wie „Ohrwürmer“ ein.
Während viele Menschen nach dem Berufsleben im Ruhestand an Bedeutung verlieren, hat sich Manfred Schlenker weiter entwickelt und ist als Komponist gereift und hat Bedeutung gewonnen. Im von Manfred Schlenker vertonten Lied „Frühling kehrt wieder“, von dem befreundeten Theologen Klaus-Peter Hertzsch heißt es: „...Wir kommen aus geheimem Anfang her und sind zu gutem Ziele auf der Reise. […] lass uns vorwärts in die Weite sehn, wo alle Horizonte offen stehn und sich im Osterlicht die Berge Gottes breiten.“
Wir verneigen uns in tiefer Trauer und dennoch dankbar und erfüllt vor diesem reichen Leben, vor dieser für so viele Kirchenmusiker wichtigen Persönlichkeit, dem Komponisten, dem Urmusiker, dem zutiefst glaubenden Christen, dem Haupt einer beeindruckend großen Familie, diesem Monolith in der kirchenmusikalischen Landschaft.
Gesammelte Äußerungen von ehemaligen Studierenden und anderen musikalischen Weggefährten von Manfred Schlenker, redaktionell zusammengefasst von Christian Ohly
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